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Volker Surmann: "Bloßmenschen"

Volker Surmann: „Bloßmenschen“

Es gibt Situationen, in denen fragt man sich: „Warum zur Hölle passiert mir immer sowas?“

Ich saß im ICE nach Hamburg und hatte eine Reservierung in einer Vierersitzgruppe mit Tisch. Ich nahm am Gang Platz. Auf der anderen Seite des Gangs saß ein Mann etwa in meinem Alter, tipperte am Rechner herum und hörte Musik. Mit einem wusch ging die Tür zu unserem Wagen auf und ein Mann von kräftiger Statur wankte rein (denn normal laufen kann man im Zug nicht). Sein Hemd saß über dem Bauch zu eng, die Knöpfe drohten abzusprengen. Das Hemd war zum Teil aus der Hose gerutscht. Vorne an der Knopfleiste quollen dichte schwarze Haare heraus, ebenso hinten am Kragen. Haare, die er dringender auf dem Kopf gebraucht hätte. Die Hose hing Gürtel sei Dank gerade so noch da, wo sie sein sollte. Er war geschwitzt und atmete schwer, als sei er gerannt. Aber wer rennt schon im Zug?

Im Vorbeigehen ließ er etwas auf den Boden fallen. Mein Gangnachbar und ich schauten beide runter. Da lag es in seiner ganzen, verstörenden Pracht: ein benutztes Kondom. Wir schauten dem Mann entgeistert hinterher, dann wieder runter und uns gegenseitig an. Fassungslos mit weit aufgerissenen Augen. Kurz danach kam eine Frau in unseren Wagen, stellte ihren Rucksack auf den Boden und nahm Platz. Ich muss nicht erwähnen, WO sie ihren Rucksack absetzte, oder?

Geschichten, die das Leben schreibt… oder auch schöner reisen mit der Bahn.

Schöner schämen für alle

Blossmenschen 1

Um genau solche absurden Alltagsgeschichten geht es in Volker Surmanns „Bloßmenschen – Schöner schämen für alle„. Er berichtet von Menschen ohne jegliches Schamgefühl, doch auch er selbst überschreitet die Grenzen dessen, was man als Normalsterblicher über sich in einem Buch preisgeben würde. Gerade in Zeiten, in denen jeder googeln kann, wie die Person, die gerade von einer Rektal-OP schreibt, aussieht. Danke Google!

Die Kurzgeschichtensammlung ist sehr unterhaltsam und waren mein perfekter Begleiter auf den morgendlichen U-Bahn-Fahrten. Wobei, je mehr ich darüber nachdenke: das Buch war nicht immer optimal. Nämlich immer dann, wenn ich wieder einen Lachflash bekam und mich die anderen Fahrgäste irritiert anstarrten. Und wie das nunmal so ist, lacht man noch mehr, wenn man es nicht sollte…

Nichts für Zartbesaitete

Passend zu meinem ICE-Zwischenfall erzählt er in der Kurzgeschichte „Unerwartetes Bekenntnis eines langweiligen Mannes“ von einem Passagier, der unvermittelt mitteilt:

„Ich befriedige mich auch gelegentlich selbst“

Man spürt förmlich die Anspannung, die der Autor in dem Moment erfuhr. Es ist kaum auszuhalten und man fragt sich unweigerlich, wie man selbst in der Situation reagiert hätte. Vermutlich ähnlich wie er:

Äh-he häää … hä?!

Ob der langweilige Mann an Tourette litt, eine Wette verloren hatte oder einfach das Universum zum Implodieren bringen wollte, bleibt leider offen.

Während bei manchen Geschichten Fremdschämen galore angesagt ist und man vor Unbehagen kaum noch sitzen bleiben kann, springt bei anderen das Kopfkino an und man stellt sich das Geschilderte äußerst bildlich vor. Wie bei der Geschichte „Der Sackmann“ – hier wird faszinierend beschrieben, welchem Schönheitsideal manche Menschen so nacheifern: Stichwort „Hodensackinfusion“.

Der Mann trug ein Gemächt, das mehr nach Geschwür aussah. Ein Skrotum in Kindskopfgröße, ähnlich gerötet, ähnlich wenig Haare. Und wenn such der Mann auf den Bauch legte, sah es tatsächlich so aus, als presse sich da gerade ein Neugeborenes aus seinem Schritt hervor.

Bei anderen Erzählungen leider man intensiv mit Volker Suhrmann mit. Hier kommt die bereits angekündigte Rektal-OP zum Tragen samt Medikation mit Zäpfchen:

Ich sammle völlig neues medizinisches Wissen über menschliche Körperfunktionen: Flatulenz kann schmerzhaft sein, wer hätte das gedacht! Soziale Ächtung, Isolation, Ohrfeigen von Mitbewohnern, ja, davon hat man schon gehört, aber ich fühle mich tief am Ende meines Innersten, als könnte ich Feuer speien. Ich bin ein Rektaldrache!

Ich denke auch öfter an meine Mutter. Was sie wohl sagen würde, wenn ich dieses Buch verfasst hätte? „Kind, gib doch nicht immer so viel von die Preis!“ – ob das Volkers Mutter wohl auch manchmal denkt?

Eigentlich egal, denn schlussendlich erkennt man sich in mehr als einer Kurzgeschichte wieder: wenn es um das Ausmisten des alten Kinderkrempels geht oder bei Gruselgeschichten, die einem in den Kindertagen aufgetischt wurden. Und wer kennt nicht die Situationen, wenn in der U-Bahn oder Sauna die Mitmenschen einfach wieder zu viel von sich preisgeben?

Volker Surmann spricht das aus bzw. schreibt das nieder, was wir höchstens wagen zu denken, aber nie aussprechen. So entsteht ein Gefühl der Verbundenheit im Alltagswahnsinn. Man ist nicht allein mit seinen Gedanken und Schockmomenten. Und das tut gut.

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